Eine unserer Hauptaufgaben im Bereich User Research und Psychologische Produktgestaltung ist das Aufdecken von Beweggründen und Einstellungen einer Person. Zum Erreichen dieses Ziels ist das qualitative Interview die Methode der Wahl. Durch die gezielte Gestaltung der Fragen und die Möglichkeit, frei und flexibel auf die Antworten der Teilnehmer einzugehen, ergeben sich fast unbegrenzte Möglichkeiten, um Ihre Interviewpartner besser kennen zu lernen.
Neben der Herausforderung ein gutes Interview durchzuführen, stellt sich im Kontakt mit dem Kunden oftmals die Herausforderung ein, diese Daten dann gezielt aber auch ökonomisch auszuwerten. Herkömmliche wissenschaftliche Methoden zur Inhaltsanalyse bieten hierfür leider nur eine stark beschränkte Lösung, da die Auswertung oftmals unverhältnismäßig aufwändig ist. Dadurch ergibt sich das Problem, dass die wissenschaftliche Auswertung oft teuer, langwierig und wenig praxisbezogen ist.
Ich möchte Ihnen heute eine Methode vorstellen, die wir einsetzen, um Tiefeninterviews auszuwerten, mit einem Fokus auf Verständlichkeit, praktischer Anwendbarkeit und Wirtschaftlichkeit. Vielleicht unterstützt Sie diese Methode ja auch zukünftig bei der Auswertung Ihrer Daten.
Die Methode die ich Ihnen vorstellen möchte nenne ich „Pseudoquantifizierung“. Das Ziel ist es, die wichtigsten Antworten aus den qualitativen Interviews herauszukristallisieren und ein Gefühl dafür zu bekommen, wie viele Personen diese Beweggründe oder Einstellungen aufweisen.
Ich möchte Ihnen die Methode an einem Beispiel erklären. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine neue App entwickelt, die Eltern bei der Absprache für die Freizeitaktivitäten ihrer Kinder unterstützen soll. Um die Qualität der App zu testen, führen Sie eine Reihe von Usability Tests oder Interviews durch. Innerhalb dieser Interviews sprechen Sie mit insgesamt 3 Eltern.
Hier sehen Sie auch direkt die Problematik des Themas: 3 Interviews sind auf keinen Fall quantitative Daten. Trotzdem sind Auftraggeber oft daran interessiert herauszufinden, wie viele Personen diese Wahrnehmung haben. Die Durchführung von einer Vielzahl von qualitativen Interviews ist jedoch extrem aufwändig. Einmal wegen der Zeit für die Durchführung, auf der anderen Seite wegen der aufwändigen Auswertung. Außerdem zeigt sich oft, dass viele der Beweggründe schon im Gespräch mit wenigen Teilnehmern identifiziert werden können. Große Unternehmen wünschen sich im Regelfall eine Kombination aus qualitativen und quantitativen Methoden, die eine echte Quantifizierung erlauben. Dieses Vorgehen ist jedoch aufwändig und teuer und damit für kleine Unternehmen wenig geeignet und bedeutet außerdem eine erhebliche Zeitverzögerung.
Die Pseudoquantifizierung gibt einen Eindruck von der Wichtigkeit der Gründe ohne den Aufwand der Doppelerhebung und ist damit auch geeignet für weniger aufwändige Untersuchungen und kleinere Unternehmen.
Nun, zurück zu den 3 Interviews:
Stellen Sie sich vor, Sie fragen in den Interviews, was für die Nutzer wichtig wäre in dieser App.
Das erste Elternpaar antwortet Ihnen Folgendes:
„Oh, wissen Sie, unser Sohn ist viel unterwegs und die Planungen ändern sich spontan. Also wäre es für mich sehr wichtig, dass wir beide gemeinsam in den Kalender sehen können und auch spontan Änderungen eintragen können. Da wir beide Arbeiten wäre es toll, wenn man in Abhängigkeit vom eigenen Kalender Fahrzeiten zu den Aktivitäten angezeigt bekäme und die Aktivität einer Person zuweisen kann, so dass wir wissen, wer sich darum kümmert.“
Elternpaar zwei antwortet:
„Wie Sie ja bereits wissen, haben wir 3 Kinder. Das macht es manchmal echt schwer, den Überblick zu behalten und wir tun uns schwer, herauszufinden, ob wir Zeit haben oder eigentlich schon mit einem anderen Kind irgendwo hin unterwegs sind. Cool wäre auch, wenn wir Vorschläge für Tätigkeiten bekommen würde. Wenn unsere mittlere Tochter zum Beispiel bei Freunden ist, könnte die App uns vorschlagen, was wir mit unseren beiden Kindern in der Zeit in der Nähe tun könnten. Zum Beispiel einen Spielplatz oder einen Freund in der Nähe.“
Das letzte Elternpaar sagt Ihnen:
„Wir sind beide selbstständig. Da passiert leider andauernd etwas anderes und oftmals müssen wir unsere Planungen spontan ändern. Es wäre uns also wichtig, dass wir beide gemeinsam und gleichzeitig und kurzfristig Zugang haben. Auf der anderen Seite sind wir oft auf die Hilfe der Familie und von Freunden angewiesen.“
Nach dem Sie nun die Daten haben, nehmen Sie sich den ersten Text vor und gehen ihn nach wichtigen Aspekten durch. Die erste Aussage ist „beide gemeinsam in den Kalender sehen können“. Bei der qualitativen Aussage würden Sie jetzt dieses Zitat nehmen und ggf. als Videoausschnitt oder Audiomitschnitt für sich stehen lassen. Ggf. würden Sie es noch interpretieren, aber Sie würden die Antworten auf einer Einzelfallbasis betrachten. Für diese Methode machen Sie Folgendes: Sie überlegen sich, was ist die nächsthöhere Abstraktionsebene dieser Äußerung? Für dieses konkrete Beispiel könnten Sie unter Umständen die Kategorie „kooperative Nutzung“ einführen. Dann erstellen Sie eine Tabelle – am PC, auf einem Blatt, wo immer Sie wollen – und schreiben folgendes hinein:
Nummer | Kategorie | Einzelaussagen |
1 | Kooperative Nutzung | beide gemeinsam in den Kalender sehen können; |
Als nächstes könnten Sie eine neue Kategorie einfügen und diese zum Beispiel „Zeitplanungs-Management“ nennen.
Nummer | Kategorie | Einzelaussagen |
1 | Kooperative Nutzung | beide gemeinsam in den Kalender sehen können; |
2 | Zeitplanungs-Management | Kalender; |
Dann fügen Sie die Einzelaussagen der Eltern in der letzten Spalte ein, so dass Sie später, ohne die kompletten Zitate zu haben oder die Transkripte zu lesen, wissen, welche Antworten alle in diese Kategorie fallen.
Auf diese Art und Weise gehen Sie das komplette Interview durch. Nach dem Interview 1 könnte die Tabelle dann zum Beispiel so aussehen.
Nummer | Kategorie | Einzelaussagen |
1 | Kooperative Nutzung | beide gemeinsam in den Kalender sehen können; |
2 | Zeitplanungs-Management | Kalender; Fahrzeitplanung |
3 | Live-Modus | Spontane Änderungen; |
4 | Aufgaben-Management | Zuweisen einzelner Aufgaben zu Personen; |
Bis jetzt ist die Tabelle eine reine Auflistung, aber Sie können an dieser Stelle natürlich auch schon mit der Pseudoquantifizierung anfangen. Dazu erweitern Sie die Tabelle wie folgt:
Nummer | Kategorie | Einzelaussagen | Anzahl Nennungen | Min | Max |
1 | Kooperative Nutzung | beide gemeinsam in den Kalender sehen können; | 1 | 1 | 1 |
2 | Zeitplanungs-Management | Kalender; Fahrzeitplanung | 2 | 2 | 2 |
3 | Live-Modus | Spontane Änderungen; | 1 | 1 | 1 |
4 | Aufgaben-Management | Zuweisen einzelner Aufgaben zu Personen; | 1 | 1 | 1 |
Hier können Sie jetzt plötzlich sehen, wie oft eine Kategorie überhaupt genannt wurde und wie oft die Kategorie in den Einzelinterviews mindestens, aber auch maximal angesprochen wurde. Die Zahlen machen natürlich nach dem ersten Interview noch nicht viel Sinn, weil klar ist, dass jeder Grund, der in der Tabelle auftaucht, mindestens einmal genannt wurde. Wie Sie aber jetzt schon sehen können, wurden bereits im ersten Interview zwei Aspekte des Themas Zeitplanungs-Management (ein Kalender und eine Integration einer Fahrzeitplanung) genannt.
Nun ergänzen Sie die Tabelle weiter mit den anderen Interviews. Parallel dazu führen Sie eine zweite Tabelle, die Ihnen die Auswertung der Daten auf Interviewebene anzeigt. Hierbei tragen Sie pro durchgeführtem Interview die Gründe ein, die genannt worden sind. Diese Tabelle wird im Laufe des Interviews ständig erweitert. Hier ein Beispiel dafür:
Interview | Grund 1 | Grund 2 | Grund 3 | Grund 4 | Grund 5 |
1 | 1 | 2 | 3 | 4 | |
2 | 2 | 4 | 5 | 6 | 3 |
3 | 2 | 2 | 7 |
So haben Sie am Ende eine Tabelle, in der Sie eine Liste von Antworten führen, denen Sie Nummern zuweisen und Einzelantworten, die Sie in diese Gruppe gepackt haben. Auf der anderen Seite haben Sie eine Tabelle in der jedem Interview die Gründe numerisch zugeordnet sind.
So können Sie auf der einen Seite gut nachvollziehen, was gesagt wurde, werden auf der anderen Seite aber auch sehr viel schneller in der Auswertung. Die ersten Interviews mit dieser Methode sind recht aufwändig, da Sie hier permanent neue Gründe entdecken und dokumentieren müssen. Nach einigen Interviews wiederholen sich aber viele der Gründe, so dass Sie nur noch Zahlen zuordnen müssen und ggf. fehlende Einzelangaben ergänzen. Dadurch beschleunigt sich der Auswertungsprozess vor allem bei mehreren Interviews erheblich. Außerdem behalten Sie sich die Möglichkeit vor, später nach Tendenzen und Mustern zu suchen, die mehrere Personen teilen. Sie finden schnell heraus, welche Aspekte für viele Menschen entscheidend sind und welche nur für einzelne Personen. Sie sehen, wie viele verschiedene Aspekte es gibt und Sie schaffen es trotzdem, eine Zusammenfassung zu erstellen, die die Verständlichkeit erhöht.
Insgesamt ein super Ansatz, um qualitative Interviews pragmatisch und doch wissenschaftlich auszuwerten. Ich hoffe, er bringt Ihnen so viele spannende Informationen wir uns.