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Der Baby-Effekt – Wenn Entwickler zu sehr lieben

Autor: Benjamin Franz

Lesedauer:

Jul 2020

Liebe ist nie schlecht. Und zu viel Liebe kann es nicht geben. Denkt man. Bei Menschen mag das zutreffen, bei Produkten muss das nicht der Fall sein. Wir möchten heute das Augenmerk darauf lenken, was passiert, wenn Entwickler zu sehr lieben. Wir, das sind 3 begeisterte UXler, die zusammen seit mehr als 50 Jahren die User Experience von Produkten für Nutzer optimieren. Und wir alle kennen IHN: Den Baby-Effekt. Es geht beim Baby-Effekt nicht um niedliche Kleinkinder, sondern wir sprechen von einer hohen Identifikation mit einer Idee und später im fortschreitenden Entwicklungsprozess mit einem Produkt – dem „Baby“ eines Entwicklers. Eine Verbindung, die häufig über die Zeit noch intensiver wird. Wären wir in „Herr der Ringe“, würde Gollum „Mein Schatzzz“ säuseln und den Ring an sich pressen. Es geht um die Abwehr, auf die man trifft, wenn Produkte auf Grund der User Experience geändert werden sollen. Die psychologischen „Sunk Costs“ also, die nicht in Euro, sondern in Herzblut bezahlt werden. Und dieses Herzblut steigt, umso länger am eigenen „Baby“ gearbeitet wird.

User Experience, das Wort stammt aus den beiden Wortteilen: User – der Nutzer, und Experience – die Erfahrung. Beim User Experience Design geht es uns also um die Gestaltung der Nutzererfahrung. Blick man auf viele klassische Unternehmen, die (noch) nicht ihren Fokus in der Softwareentwicklung haben, könnte man gelegentlich das Gefühl haben, es geht gar nicht um die User Experience, sondern um die Developer Experience. Die Entwicklererfahrung also. Oftmals findet der „Kampf“ um die User Experience in der Entwicklung an ganz anderer Stelle statt als gedacht: Nicht die Nutzer diskutieren über verschiedene Ansätze und werden sich nicht einig, sondern die Entwickler sind nicht bereit, ihr jahrelang gehegtes und gepflegtes Konzept zu ändern. Die Gründe, die hierfür vordergründig genannt werden, sind vielfältig:

  • interne Freigaben
  • bestimmte Kunden, die man kennt und die dieses Feature/diesen Ablauf/dieses Interface-Element… unbedingt genauso benötigen
  • technische Machbarkeit
  • Zeit bis zum Launch
  • die Kosten
  • „Das haben wir schon immer so gemacht“

Fragt man aber nach und zeigt Wege auf, wie die Umsetzung des Konzepts trotzdem gelingen kann, geht es oft trotzdem nicht weiter. Ein Grund nach dem anderen rückt in den Vordergrund, bis man als UXler das Gefühl hat, nicht einem einzelnen Entwickler, sondern einer ganzen Armee von Gründen gegenüber zu stehen. Und so nach und nach zeigt sich: Es geht gar nicht um die Freigaben oder die technische Machbarkeit. Es geht um Ängste. Und um Liebe.

Die Ängste können vielfältig sein. Es gibt die Angst vor Veränderung, hervorgerufen durch das unbekannte Land, welches vor einem liegt, durch die Tür, die man öffnen muss. Es gibt aber auch Versagensängste, wie die Angst davor, als Entwickler nicht mehr so viel „wert zu sein“, weil das eigene Konzept nicht die Anerkennung findet, die man sich erhofft hat oder nicht den Nutzerbedürfnissen entspricht – aber man doch eigentlich genau das wollte.

Auf der anderen Seite steht die Liebe zum Detail, die in die Entwicklung investiert wurde. Die vielen Gedanken und Stunden und Absprachen, die stattgefunden haben und durch die man sich durchgekämpft hat, um am Ende genau DIESES Produkt vor sich zu haben. Die hitzigen Diskussionen mit den Kollegen, die langen Abende kurz vor Launch, die Freude über das fertige Produkt. Das warme Gefühl in der Brust, wenn das Produkt zum ersten Mal in freier Wildbahn unterwegs ist. Es geht also um die Liebe zu dem Produkt, die in vielen (teils einsamen) Stunden langsam, aber stetig gewachsen ist.

In beiden Fällen liegt die Ursache in einer starken Identifikation und Verbindung seiner eigenen Person mit „seinem“ Produkt. Aus Motivationssicht ist das auch genau das, was erstrebenswert ist. Denn nur wer intrinsisch motiviert ist, kann auch über sich hinauswachsen und Großartiges schaffen. Es hat aber auch Schattenseiten, wenn sich die Identifikation zu einem Blindspot Bias wie dem oben beschriebenen Baby-Effekt entwickelt.

Der Änderungsvorschlag durch den UXler oder das Feedback der Nutzer ist dann nicht mehr die ersehnte Hilfestellung, um ein noch besseres Produkt zu entwickeln, sondern es wird als Angriff auf die großartige Arbeit, die geleistet wurde empfunden. Der UXler wird zu den Eltern, die den ersten Freund nicht akzeptieren. Zu den Anderen, die einem die Freunde nicht gönnen wollen. Zu denen, die nicht verstehen WOLLEN, warum dieses Produkt perfekt ist, genauso wie es ist.

Wir finden das vor allem eins: Schade. Aber verständlich. Aus einer Welt kommend, in der Technik – und das Verständnis davon – einigen wenigen Experten vorbehalten war, ist es der natürliche Weg vieler etablierter Unternehmen, die Expertise ihrer Angestellten über die Expertise von Laien zu stellen. Und in vielen Bereichen ist dies auch genau der richtige Ansatz. Ein Nutzer wird selten in der Lage sein zu sagen, WIE ein Produkt aussehen soll. Aber der Nutzer ist immer in der Lage zu sagen, OB das Produkt für ihn geeignet ist und WARUM das (nicht) so ist.

Inzwischen durchdringt Technik jedoch jeden Aspekt unseres Alltags und der Kontakt zu Technik ist für viele Menschen zum Alltag geworden. Auch ältere Menschen nutzen eine immer größere Vielzahl an technischen Produkten und die Corona-Krise hat diesen Wandel in vielen Bereichen sogar noch beschleunigt. Dadurch wird der Nutzer plötzlich Experte. Nicht in der Gestaltung, aber in der Nutzung von Produkten kann er plötzlich vergleichen und bewerten. Vielleicht macht es Sinn, über den Nutzer nicht mehr als Technik-Laien nachzudenken, sondern als Nutzungsexperte, der mehr über seine Ziele, Aufgaben und Wünsche weiß, als es jeder Entwickler jemals wissen könnte.

Und vielleicht wird es dann auch bei der Entwicklung Zeit für ein Umdenken. Wie wäre es, wenn der eigene Stolz und die eigene Liebe sich nicht mehr daraus speisen, selbst die beste Lösung erdacht zu haben, sondern die beste Lösung mit und für die eigenen Nutzer gefunden zu haben. Vielleicht könnte die Liebe entstehen nicht nur zum Produkt, sondern auch zum Nutzer mit seinen Wünschen, der ultimativ für den Erfolg des eigenen Produkts verantwortlich ist? Damit dies gelingt, ist Respekt ein großes Thema: Respekt vor den Zielen, Aufgaben, Wünschen und Fähigkeiten der Nutzer. Respekt vor dem Ideenreichtum, mit dem Entwickler diese Aufgaben umsetzen. Respekt vor der Rückmeldung, die zum Konzept kommt. Respekt vor den Ressourcen aller Beteiligten.

Und diese Ressourcen lassen sich am besten schonen, indem nutzerzentrierte Methoden und Ansätze zum Tragen kommen, die schnelle Iterationen mit schnellen Rückmeldungs- und Überarbeitungsschleifen ermöglichen. So wird die Zeit der Entwickler geschont, in dem mehr Zeit in die Auswahl und Optimierung und weniger Zeit in die Verteidigung fließt. Aber so werden auch das Herz und der Stolz geschont. Wenn ich durch schnelle Iterationen mit Probandentests keine Zeit habe, mich in das „falsche“ Konzept zu verlieben, dann kann ich entspannt auf die nächste Stufe hinarbeiten. Und dann habe ich am Ende vielleicht die Chance – gemeinsam mit meinen Nutzern – das fertige Produkt an die Brust zu drücken und zu säuseln „Mein Schatzzz“.

Und sind wir ehrlich, auch einen UXler, der sich auf die konzeptionelle gestaltende Arbeit fokussiert, und die User mit der Zeit „vergisst“, kann der Baby-Effekt ereilen. Was hilft dagegen und erhält gleichzeitig die Motivation großartige Produkte zu schaffen: Nutzerzentrierung und Testen, Testen, Testen.

Und was sind Ihre Erfahrungen? Haben Sie selbst ein eigenes „Baby“? Wie lösen Sie das Problem? Wir sind gespannt, auf Ihre Erfahrungs-Schätzzzze.

 

Über die Autoren:

Dr. Benjamin Franz – Linkedin

    Ben_Bild
    • Studium Allgemeiner Maschinenbau an der TU Darmstadt
    • Promotion an der TU Darmstadt zum Thema Mensch-Maschine Interaktion in hochautomatisierten Fahrzeugen
    • Lehrauftrag zur Vorlesung „Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen“ an der TU Darmstadt
    • Seit 2013 Gründer und Geschäftsführer der Data Driven UX Agentur Custom Interactions, die sich mit User Research / UX / User Interface Design beschäftigt.

    Dr. Lutz Krauß – Linkedin

      Lutz_Bild
      • Studium Maschinenbau an der Universität Kaiserslautern
      • Promotion an der Universität Kaiserslautern im Thema Mensch-Maschine-Interaktion und speziell im Bereich der Interaktionselemente wie z.B. Touchscreen; in diesem Rahmen ist auch die VDI/VDE-Richtlinie entstanden (VDI/VDE 3850)
      • Seit 2003 bei Porsche verantwortlich für die UI/UX in verschiedenen Rollen für die HMI-Generationen HMI2005, HMI2010, HMI2015, HMI2020 sowie einige Apps (Porsche Connect, Porsche Track Precission App, Offroad App, etc.)

      Dr. Michaela Kauer-Franz – Linkedin

        Michaela_Bild
        • Psychologiestudium an der TU Darmstadt
        • Promotion zum Thema Technikakzeptanz im Maschinenbau an der TU Darmstadt
        • Lehrauftrag zur Vorlesung „Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen“ an der TU Darmstadt
        • Mitarbeit im nationalen Normungsgremien des DIN zu den Themen der Ergonomie und Usability
        • Seit 2013 Gründerin und Geschäftsführerin der Data Driven UX Agentur Custom Interactions, die sich mit User Research / UX / User Interface Design beschäftigt.

         

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